Autonomie und Zusammenhang

Stephanie Marchal, Greven 2017.

Der Kunstverein genauer: der Kunstturm Greven ist ein Ort, der mit den Arbeiten von Karin Kopka-Musch auf ganz eigene Weise korrespondiert: Einen Turm zu bespielen ist kein leichtes Unterfangen. Anstatt mit gleichmäßigen „white cube“-Räumen und großen, horizontalen Wandflächen konfrontiert zu sein, fordern hier Wand-Um- und Wand-Aufbrüche, sichtverstellende Balken und z.T. vertikal konzipierte Raumstrukturen die Hängung heraus und machen die kuratorische Geste als komplexen gestalterischen Akt und die Objekt-Träger ‚Raum‘ und ‚Wand‘ als unhintergehbar an der Malerei teilhabend bewusst. Zutage tritt, dass die die gesamte Moderne hindurch und bis heute als Ort der Bilder nahezu alternativlos anmutende weiße Wand nur vermeintlich neutral ist und nur vermeintlich zurücktritt, um die Bilder nur vermeintlich sich selbst zeigen zu lassen. De facto ist sie es, auf die hin die Werke der Moderne angelegt sind; die Wand ist bereits produktionsästhetisch jedem zweidimensionalen Werk eingeschrieben. Für Karin Kopka-Musch trifft dies insofern ganz besonders zu, als sie geradezu leitmotivisch die Bedingtheiten ihres Mediums, der Malerei, befragt und deren Grenzen auslotet. Die Wand ist dabei der eine, die Malerei bedingende Träger; sie gerät ebenso selbstreflexiv in den Blick wie der zweite Träger, die Leinwand.

Das Zusammenspiel dieser beiden Träger ist konstitutiv für unsere Vorstellung davon, was ein Bild ist und sein kann. Zahlreiche Künstler haben mit dieser Denkfigur gespielt und dabei die „ästhetische Potenz der Wand“ (Brian O’Doherty)1 fühlbar gemacht – erinnert sei beispielhaft an die Raumbespielungen El Lissitzkys in den 1920er Jahren oder an die frühen „shaped canvases“ von Frank Stella Mitte der 1960er Jahre. Bei Karin Kopka-Musch sehen wir Gemälde, die auf andere, aber nicht minder ungewohnte Weise trägerübergreifend daherkommen, wenn sie etwa das Format ihrer Leinwand verlassen und sich über die Bildgrenzen hinaus auf die Wand erstrecken und diese aktivieren.

In und mit dieser Entgrenzung der Leinwand wird auch eine andere, typisch moderne und seit Caspar David Friedrichs Mönch am Meer (1808-10, Alte Nationalgalerie), Claude Monets Seerosen (1897-1926) sowie der Minimal Art sicherlich immer wieder befragte Kategorie herausgefordert und zur Disposition gestellt: das Postulat einer etwaigen „inneren Notwendigkeit“ und / oder „Stimmigkeit“, die wir von einem Kunstwerk erwarten und die wir diesem häufig als qualitativen Maßstab zugrunde legen. Wie lassen sich Werke beschreiben, die, wie die hier versammelten, ihren Rahmen verlassen und ihre Einheit dabei in Frage stellen? Wie gestaltet sich das Wechselspiel von Innen und Außen des Werks? Gibt es eine die Bildformen in sich bannende und subsumierende Hierarchie der Komposition? Halten die Werke in sich und an der Wand? Was ist das für ein Dialog, den die Bildoberfläche, die Leinwand und die Wand da miteinander führen? Und schließlich: Halten tradierte kunsthistorische Kategorien der Beschreibung diesen Werken stand?

Wir fühlen uns im Akt der Rezeption, zu dem wir uns mit solchen Überlegungen nun gedanklich hin entwickelt haben, in unserer Haltung und unserer Rolle als Betrachtende provoziert. Wie resonieren wir beispielsweise angesichts eines Bildes, das sich, wie es der Titel „Um die Ecke gebracht“ bereits selbstberedt suggeriert, übereck erstreckt? Wie gegenüber einer Leinwand, zu der wir hinaufblicken müssen, da sie unter der Decke angebracht ist? Wo ist unser Standort? Wieso ist ein Gemälde gerahmt, das doch offensichtlich innerbildlich nicht zum Abschluss gekommen zu sein und sich über die Ränder hinaus weiter zu erstrecken scheint? Wo ist vor einem derart entgrenzten Gemälde unser Platz? Wo beginnen wir mit unserer Blickwanderung – gibt es eine Leserichtung?

Und es lassen sich noch weitere Irritationsmomente im Werkschaffen Karin Kopka-Muschs identifizieren, die sich nahezu sämtlich ebenfalls unter der Überschrift „(alles) eine Frage der Verortung“ fassen ließen.

Werkübergreifend kristallisieren sich etwa gewisse Formen und Formfragen einem basso continuo gleich heraus und führen dergestalt vor Augen, dass viele Arbeiten in ähnlichen gestalterischen Anliegen und Zugriffen gründen, ja dass sich „Bildvokabeln“ bilderspannend wiederholen, dass von Bild zu Bild weitergedacht und ein roter Faden weitergesponnen wird. Was aber ändert sich, wenn beispielsweise eine bilddominant gegebene Ellipse auf mehreren Werken wiederkehrt und dabei mit je leichten Verschiebungen ins Bild – mal höher, mal tiefer auf der Fläche verortet – gesetzt wird und wenn dabei zugleich die jeweilige Rahmung sowie die jeweilige Hinterfangung der Ovalformen variiert?

Auch in solchen in Greven gezeigten Experimenten tritt der Träger als Medium hervor, die Interaktion von Form-Arrangement und Papier macht die Abhängigkeit dieser beiden Aktanten voneinander überhaupt erst als solche bewusst. Spannungsverhältnisse werden folglich nicht nur durch das Spiel der Bild-Formen zu- und miteinander produziert, sondern um den Träger als weitere Formvariante potenziert.

Die so und auch anders durchgespielte Wieder-holung, die Relationen sichtbar und das „Neue“ als etwas stets Bedingtes bewusst macht, ist eine Facette von Karin Kopka-Muschs Werkschaffen. Zugleich lenkt die Künstlerin ihren Fokus immer auch ganz entschieden auf Unterschiede, etwa, wenn Formen die Leinwand nach hinten hin aufzureißen scheinen und uns an das Bild als Fenster im Sinne Albertis denken lassen oder aber wenn Formen – genau gegenläufig dazu – sich parallel zur Bildfläche erstrecken, wenn sie sich auf der Fläche bewegen anstatt einen imaginativen Bildraum zu öffnen. Warum aber, so die sich vor diesen Differenzen einstellende Frage, animieren uns einige Formzusammenhänge eigentlich dazu, Raum zu denken und andere nicht? Und was bewirkt in diesem rezeptionsästhetischen Prozess, der mit unseren Sehgewohnheiten spielt, das oft unvermittelte Nebeneinander von gemalter Form und weißer Leinwand, wie sie stellenweise hervortritt? Warum hinterfängt die Leinwand einige Formen und ebnet sie in eine Fläche ein, wohingegen sie anderen einen regelrechten Umraum und Luft zu geben scheint? Einfacher gefragt: Wann staffeln wir warum ein Bild in Gründe, wann zeigt es sich uns als Fläche? Wann empfinden wir eine Form als plastisch, wann als ornamental?

Der alternierende Umgang mit all diesen durchaus tradierten und von Karin Kopka-Musch aktualisierten Fragen macht das Bild als Medium, Möglichkeitsraum und Projektionsfläche überhaupt erst bewusst, als Projektionsfläche, die wir als Betrachtende mit unserem Wissen, mit unserem „wiedererkennenden Sehen“ (Max Imdahl)2, gleichermaßen mit-, ja wenn nicht gar überformen.

Karin Kopka-Muschs eigenwilliger Umgang mit tradierten bildkünstlerischen Herangehensweisen und ihre selbstbewusste Anverwandlung und Kombination dieser Zugriffe, zeigt sich auch bei der Wahl der Malmittel und Malweisen, etwa wenn die kalkulierte Wiederaufnahme klarer, zum Teil Schablonen-generierter Formen, gemalt mit Acryl-Farben, auf das Arbeiten mit der auf Zufall setzenden Spraydose trifft. Auch hier scheint es darum zu gehen, auszuloten, wie sich die Dinge zueinander verhalten – in diesem Fall, wie verschiedene Formsprachen, wie konzeptuelles und sinnliches Ausdruckspotential interagieren. Harte und weiche, kristalline und luftig-kurvige, negative und positive Formen stoßen aufeinander – aber halten sie inne? Halten sie inne, wie es der von Karin Kopka-Musch lancierte Titel ihrer Ausstellung behauptet: Die Sachverhalte halten inne. Ich kann diesen Titel nicht anders als als provokative Reibungs- und Abstoßungsfläche begreifen, da sich für mich im Grunde genau das Gegenteil einstellt: Alles ist in Bewegung, ist Energie, hangelt sich weiter von Form zu Form, von Bild zu Bild, von Bild zu Wand, von Display zu Betrachter etc. Oder impliziert „Innehalten“ das Festhalten der Werke in einem (für Ausstellungen typischen) temporären Display, installativ an Wand und Decke genagelt? Demnach hielten das von der Künstlerin mit ihren Werken selbst geführte, werkeübergreifende Gespräch einen Moment lang an und die Sachverhalte in diesem Sinne einen Moment lang inne.

Das eigene Werkschaffen werkeübergreifend als fortwährenden Monolog des Künstlers mit sich selbst und seinem Werk oder auch als Dialog der Werke unter- und miteinander zu begreifen, ist ein Moderne-spezifischer Topos. Mit Aufkommen des den Hofkünstler ablösenden Ausstellungskünstlers gegen Ende des 18. Jahrhunderts oblag es insbesondere den nun von akademischen, höfischen und sakralen Auftraggebern entbundenen und auf Ausstellungen um Interessenten buhlenden Malern und Malerinnen, ihr Werk als kohärentes Gefüge und sich selbst als stringent und somit „authentisch“, als glaubwürdig im Rahmen der je vorherrschenden Glaubwürdigkeitscodes und Argumentationskultur zu präsentieren. Wir, die BetrachterInnen wollten und wollen sehen, wie ein Künstler bzw. eine Künstlerin ringt, wie er bzw. sie sich an intrinsisch motivierten Fragen abarbeitet und wie er oder sie sich dabei selbst „treu“ und „un-entfremdet“ bleibt. Die Aussage von Renée Sintenis, „[m]ir ist mein Schaffen nichts anderes als ein selbstverständliches inneres Müssen“3, ist in ähnlicher Form von zahlreichen Künstlern und Künstlerinnen der Moderne überliefert und deckt sich mit dem Erwartungshorizont des gemeinen Betrachters. Auch wenn zwischenzeitlich, etwa mit dem „Chamäleon“ Picasso, diese Forderung nach Stringenz immer mal wieder in Frage gestellt zu werden scheint – ganz frei können wir uns von der Vorstellung, eine stimmige Entwicklung als Ausweis der Ehrlichkeit eines Künstlers bzw. einer Künstlerin zu begreifen, noch immer nicht machen. Ein Großteil der monographischen Ausstellungen und Texte ist nach wie vor von diesem Narrativ eines konsequenten künstlerischen Werdegangs geprägt. Es handelt sich um einen kunsthistoriographischen und von Kunstschaffenden auch selbst lancierten roten Faden, mittels dessen wir uns gerne und oft durch ein Oeuvre hangeln, ein roter Faden, der uns orientiert. So auch hier – so auch das Narrativ des vorliegenden Textes, wenn oben hervorgehoben wurde, dass und wie Karin Kopka-Musch sich an wiederkehrenden gestalterischen Fragen und Anliegen abarbeitet. Auch hier vermittelt sich qua Wiederholung der Eindruck von Kohärenz im künstlerischen Ringen sowie der Eindruck eines Werkzusammenhangs – und das alles vermittels eines abstrakten Formenrepertoires.

Figürlich-Gegenständliches war an den Wänden des die Arbeiten Kopka-Muschs beherbergenden Grevener Turms nicht zu finden – allenfalls ein vereinzeltes, assoziatives Spiel mit vermeintlich identifizierbaren und das sehende Sehen dergestalt herausfordernden Formelementen. So meinen wir, hin und wieder Spuren von Himmel und damit ein Element ausmachen zu können, das sich für das wilde, assoziative Denken nachweislich bereits seit der Antike zu eignen scheint, regt es doch dazu an, Formationen zu erkennen, ohne ihrer qua Fixierung habhaft und sicher sein zu können.

Ist es der alte Traum einer Universalsprache, einer allen verständlichen, da auf Grundformen reduzierten Bildsprache, die die Künstlerin ebenso gestisch-expressiv wie geometrisierend, aber eben dezidiert nicht gegenständlich arbeiten lässt? Karin Kopka-Musch ist es nach eigener Aussage wichtig, auf der Hut zu sein, nicht zu persönlich zu werden in ihren Gestaltfindungen. Allein, selbstverständlich entstehen Gemälde nicht ex nihilo, unabhängig von eigenen existentiellen Verfasstheiten oder situativen Gestimmtheiten – daher die Wahl der Abstrahierung bzw. Abstraktion, um dergestalt Gefühle in Formen gleichsam zu binden, zu verallgemeinern und zu objektivieren? Bedeutet dieser gestalterische Zugriff ein „Von-Sich-Absehen“ und Überführen eigener in vermeintlich allgemeingültige und somit kommunikable und teilbare Energien, die zwar nicht begrifflich benennbar, aber sehr wohl sicht- und fühlbar sind? Formen und Farben treten in Spannung zueinander, es kommt zu Verdichtungen, Zusammenprall und Kontradiktion, zu Grundgestimmtheiten und Grunderfahrungen also, wie sie auf diese Weise allein im Medium Malerei zur Anschauung gebracht und vor Augen gestellt werden können.

Erinnerungswürdig ist in diesem Kontext, dass Abstraktion traditionell alles andere als weiblich konnotiert ist. Denken Sie einmal kurz nach, wer Ihnen beim Stichwort ‚Abstraktion‘ im 20. Jahrhundert einfällt! „Abstraktion und Geschlecht“ – ein bis heute wenig beachtetes, Potential bergendes, da nach wie vor (mehr oder weniger klandestin) existente Geschlechterstereotype aufdeckendes Thema, das der Aufarbeitung durch die Kunstgeschichte harrt. Der expressive Gestus ebenso wie die farbintensive Stilllegung desselben etwa in der Farbfeldmalerei waren und sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, männlich geprägt und konnotiert.

Dass Künstlerinnen vielfach noch immer ein deutlich schwereres Standing im männlich geprägten Kunstsystem haben ist schlicht Fakt. Der überwiegende Teil der großen Sammler ist männlichen Geschlechts und Männer sammeln bevorzugt Männer – ein ebensolcher Fakt. Es ist der gesellschaftlich kodierte Auftritt und das nicht minder auf den Mann zugeschneiderte, tradierte Künstler-wording, die die Differenz auszumachen scheinen. Man versteht sich unter Männern; Männerbünde sind so alt wie die Männer selbst – von Frauenbünden zeugt die Geschichte bis heute doch eher weniger. Männern steht die existentielle Geste als künstlerischer Habitus weitaus mehr zu Gesicht, sie sind darin erprobt und wir sind im Erkennen und Anerkennen trainiert. Hier gilt es, etwas zu ändern, verkrustete Vorstellungsmuster aus unseren Köpfen zu entrümpeln und nach den Gründen für selbige zu fragen.

Sicher, einfacher wird unsere Situation dadurch nicht, da wir uns in Folge als Betrachtende neu sortieren und nach neuen Kriterien, an denen sich für uns ‚gute‘ Werke und Künstler festmachen lassen, suchen müssten. Ich kann und möchte Sie nur ermutigen, sich auf dieses sicherlich lohnende Experiment eines eigenständigen kritischen Urteils einzulassen und die von Karin Kopka-Musch leitmotivisch aufgeworfene Frage nach der Verortung bzw. Selbst-Verortung ebenso selbstreflexiv anzunehmen und zu Ihrer eigenen zu machen. Versuchen Sie zu begreifen, was sie ergreift und dabei auch die Bedingtheiten ihrer Urteilsfindungen zu reflektieren. Treten Sie mit der Künstlerin und ihren Werken in den Dialog.

1 O’Doherty, Brian: Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, Santa Monica, Kalifornien [u.a.] 1986 (zuvor 1976 im Artforum als Serie über 3 Ausgaben erschienen). Hier zitiert nach: O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle. Inside the White Cube, hrsg. von Wolfgang Kemp, mit einem Nachw. von Markus Brüderlin, Berlin 1996, S. 28.

2 Vgl. dazu: Imdahl, Max: Giotto, Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980.

3 Sintenis in einem Interview, hier zit. nach: Schmidt-Beil, Ada (Hg.): Die Kultur der Frau. Eine Lebenssymphonie der Frau des XX. Jahrhunderts, Berlin-Frohnau 1931, S. 280.